Politik und Gesellschaft im phlippinischen Pentekostalismus: Forschungsergebnisse (Heidelberg, Dissertation zugl. 2016)
Giovanni Maltese
Durch die Populismus-Debatte ist die Frage nach dem Einfluss religiöser Idiome auf kollektive Identitätsbildungen sowie auf gesellschaftliche und politische Prozesse neuerdings selbst in den Kernländern der Säkularisierungsthesen in den Fokus der Forschung geraten. Auf globaler Ebene stellt die weltweite Pfingstbewegung (nebst dem Reformislam) schon seit längerem ein Paradebeispiel für diesen Fragenkomplex dar. Dabei scheinen sich die Forschungsmeinungen so stark zu widersprechen – die Deutungen reichen von theokratisch-antidemokratisch über quietistisch bis hin zu emanzipatorisch –, dass es zu einer Stagnation im Forschungsdiskurs gekommen ist. Dieser Sachlage liegt vor allem eine theoretische und methodische Unklarheit bezüglich des Forschungsgegenstands zu Grunde, die auch in der mangelnden Vermittlung von Mikro- und Makroebene fußt.
Die vorliegende Arbeit zeigt, wie lokale, nationale und globale Diskurse zu Schlagworten und Narrativen, mit denen „Religion“ und/oder „Politik“ signifiziert wird, so miteinander ins Verhältnis gesetzt werden können, dass ihre komplexe Verflechtung nicht verkannt wird. In Anlehnung an poststrukturalistische Arbeiten aus der politischen Theorie (Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Judith Butler) und den Kulturstudien (Michel Foucault, Gayatri Spivak und Dipesh Chakrabarty) legt die Studie dar, welchen Vorteil eine konsequente genealogische Historisierung von tragenden Schlagworten und Narrativen – einschließlich jener, die zur Bezeichnung religiöser Gruppen herangezogen werden (etwa „pentekostal“) – für das Verständnis des Zusammenhangs zwischen Politik und Religion bietet. Als Leitkategorien dienen hier unter anderem das Laclau-Mouffsche Konzept des Politischen und des Sozialen sowie das auf Butler zurückgehende Konzept der Sedimentierung von Abgrenzungspraktiken. Die empirische Basis der Studie bieten ethnographische Daten, die während ausführlicher Feldforschungsaufenthalte (2013–2015) erhoben wurden.
Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. Der erste Hauptteil untersucht institutionspolitisch aktive Schlüsselfiguren der Pfingstbewegung mit nationaler Ausstrahlungskraft und bietet eine historisierende Rekonstruktion jener Debatten, die für den Komplex Pentekostalismus, Politik und Gesellschaft konstitutiv sind. Der zweite Hauptteil richtet den Fokus auf eine Mittelschichtsstadt und stellt die Wirkung der zuvor rekonstruierten landesweit einflussreichen Entwicklungen und Diskurse in einem klar eingrenzbaren Kontext dar. Der dritte Hauptteil beleuchtet diese Dynamiken schließlich mit Blick auf das konkrete Politikum Reproduktionsgesundheit. Dabei wird insbesondere die Verzahnung von globalen, nationalen und lokalen Diskursen in den Blick genommen und die konkreten Semantiken herausgearbeitet.
Die These der vorliegenden Studie ist, dass der philippinische Pentekostalismus im Hinblick auf bestimmte Schlagworte und Narrative zwar als klassenheterogenes kulturelles Milieu betrachtet werden kann, dies jedoch keine Rückschlüsse auf eine einheitliche politische Haltung oder soziale Praxis ermöglicht. Die Betonung einer geistlichen Dimension gegenüber einer materiellen, das evangelistische Selbstverständnis sowie eine antiliberale, antikommunistische und ökumenekritische Rhetorik haben in der politikwissenschaftlichen Forschung dazu geführt, dass auf eine Dominanz quietistischer und weltflüchtiger Positionen innerhalb der Pentekostalen und auf eine intolerante Haltung gegenüber Andersdenkende geschlossen wurde. Eine Kontextualisierung dieser Schlagworte und Narrative hat allerdings ein anderes Bild zutage befördert: Sie stehen zwar für eine rhetorische Selbstunterscheidung von Kirchen, mit denen die Pfingstbewegung von Anfang an konkurriert hat und sind das Ergebnis sedimentierter Abgrenzungs- und Verweispraktiken. Jenseits dieser direkten, zu Selbstverständlichkeiten geronnenen Frontstellungen (und den damit einhergehenden Plausibilisierungsformen), stellen dieselben Schlagworte und Narrative jedoch in erster Linie Namen dar, mit denen unterschiedliche pentekostale Identitäten und politische Agenden verhandelt werden. Letztere können auch politische Allianzen mit Akteuren einschließen, die als das diskursive Außen gelten – etwa marxistisch-leninistische Gruppen oder islamistische Separatisten. Die Agenda dieser Allianzen ist wiederum von der Fähigkeit der einzelnen Schlüsselfiguren und Personengruppen abhängig, die Anliegen der Bevölkerungsteile, denen sie traditionell nahestehen, zu bündeln und im Horizont eines komplexen Verhältnisses von Religion und Politik in der Öffentlichkeit zu versprachlichen. Ein koordiniertes politisches Handeln mehrerer Schlüsselfiguren und Kirchen ist wenn überhaupt immer nur das Ergebnis punktueller und hochprekärer Konvergenzen, mit denen auf kontingente Ereignisse und konkrete Machtkämpfe reagiert wird.
Somit zeigt die Arbeit, dass sich sprachliche und nicht-sprachliche Praktiken vielschichtigen Aushandlungsprozessen verdanken, in denen Hegemoniekämpfe ausgefochten werden, die dann wiederum das Verständnis von religiöser Politik oder politischer Religion prägen. Je nachdem welche Mehrheitsverhältnisse und welche unhinterfragten Abgrenzungspraktiken vorzufinden sind, können dieselben Schlagworte und Narrative unterschiedliche politische Agenden hervorbringen. Dazu gehört auch das häufige Oszillieren, einerseits zwischen einem Begriff von „Religion/religiös“ im Sinne einer reinen Innerlichkeit und/oder Jenseitsbezogenheit, die den exklusiven Gegenbegriff zur „Politik der anderen“ darstellt, und andererseits im Sinne einer unbedingten Voraussetzung für „gelingende Politik“. (Letzteres hat weitreichende Folgen für die Frage nach dem Verständnis von Säkularität in der verfassungsrechtlich religionsneutralen Republik Philippinen, die durch eine traditionsreiche römisch-katholische Hegemonie gekennzeichnet ist). Entscheidend ist hierbei, dass die herangezogenen Schlagworte und Narrative aus ihrem konkreten Gewordensein heraus rekonstruiert werden, so dass zum einen ihr jeweiliges Auftreten als zentrale Größen an sich einen eigenen sozio-politischen Ort (Sitz im Leben) erhalten kann. Daraus erklärt sich dann ihre Selektion als diskursive Momente, die bedeutsam und vergleichbar sind. Zum anderen kann nur durch eine derartige sorgfältige Historisierung der Bedeutungswandel besagter Schlagworte und Narrative aufgezeigt werden. Politische Agenden sind historisch kontingent, jedoch keineswegs beliebig und daher nicht ohne konkrete genealogische Kontextualisierung als religiös, säkular oder nicht-religiöse politische Handlungen zu bezeichnen. Dies gilt auch dann, wenn die Schlagworte und Narrative nachweisbar globalen oder nationalen Diskursen entlehnt sind (wie die Arbeit etwa mit Blick auf die Rezeption des US-amerikanischen Evangelikalismus zeigt). Denn bei der Übersetzung in den jeweiligen Mikrokontext durchgehen sie eine wesentliche Transformation. Die typischen Schlagworte und Narrative sowie ihrer Trägergruppe sind daher nicht als vom globalen Diskurs abgesondert zu betrachten, eher speisen sie sie in diesen ein, wenn sich Andere darauf beziehen. Ebenso wenig sind sie aber mit jenen in anderen Kontexten gleichzusetzen, auch wenn sie prima facie identisch erscheinen. In dieser Ambivalenz, die es stets an konkreter Empirie neu zu bestimmen gilt, liegt der Aushandlungsprozess dessen, was unter Religion, Pentekostalismus und Politik verstanden wird.
Damit ordnet sich die Arbeit in die Pentekostalismusforschung und in die Philippinenstudien ein. Zugleich bietet sie einen interdisziplinären Beitrag zur Untersuchung der Frage nach dem Verhältnis von religiöser Artikulation und politischer Rationalität sowie zum Verhältnis von identitäts- und institutionspolitischer Praxis und Populismus. Mit Letzterem stellt sie auch einen Beitrag zur aktuellen Theoriedebatte um den Religionsbegriff dar.
Die Studie wird in der religionssoziologischen Reihe „Religion in der Gesellschaft“ erscheinen als: Maltese, Giovanni (2017). Pentekostalismus, Politik und Gesellschaft in den Philippinen. Religion in der Gesellschaft. Würzburg: Ergon.