REZENSION: Christoph Raedel (Hrsg.), Methodismus und charismatische Bewegung. Historische, theologische und hymnologische Beiträge. Göttingen: Edition Ruprecht, 2007.
von Ulrike Schuler
Dr. Christoph Raedel, Professor für Ökumenische Theologie an der CVJM-Hochschule Kassel und auch Mit-Herausgeber der Reihe Reutlinger Theologische Studien, hat sich mit dem vorliegenden Sammelband eine ehrgeizige Aufgabe gestellt: Er will ein Forschungsdesiderat schließen (9), indem er zusammen mit einer versiert gewählten Autorenschaft (bis auf eine Ausnahme Haupt- und Ehrenamtliche der Evangelisch-methodistischen Kirche) eine Verhältnisbestimmung von Methodismus und charismatischer Bewegung vornimmt und dabei gleichzeitig Klarheit schafft über bisweilen nebulöse Ein- und Zuordnungen von spirituellen Vorstellungen und Praktiken, wie sie auch in Gemeinden der EmK in Deutschland erfahrbar sind. Um es vorweg zu nehmen: Dieses Vorhaben ist aus meiner Sicht in wirklich beeindruckender und innovativer Weise gelungen!
Die Vorgehensweise entspricht ganz dem Theologischen Auftrag der EmK, wie er in ihrer Verfassung, Lehre und Ordnung dargelegt ist. Er bringt nämlich in der Gemeinschaft mit anderen eine Bandbreite unterschiedlicher Zugänge in den Perspektiven von „Bibel, Tradition, Erfahrung und Vernunft“ (gemeinhin als methodistisches Quadrilateral bezeichnet) miteinander ins Gespräch, um so ein allgemeinchristliches, aber auch speziell im Raum der EmK relevantes und kontrovers diskutiertes Thema auf seine Schriftgemäßheit hin zu überprüfen, historisch ein- und zuzuordnen, die Relevanz für die Vielfalt christlichen Lebens zu ermitteln und die Unterschiedlichkeit spiritueller Erfahrungen mit Gott zur Sprache zu bringen. Die vier Themenblöcke des Buches lassen sich leicht diesem hermeneutischen Verfahren zuordnen.
Im Thementeil I, Historische Beiträge, werden Einblicke in Entwicklungen und Klärungsphasen der charismatischen Bewegung innerhalb der EmK gegeben. Aus kirchenleitender Sicht erörtert der damalige Bischof der EmK, Dr. Walter Klaiber, die Entwicklung der Bewegung der geistlichen Gemeindeerneuerungen in der EmK im Rahmen eines zeitgenössischen theologischen Klärungsprozesses. Klaiber hat nach der politischen Wende ab 1992 auch die wiedervereinigte gesamtdeutsche EmK geleitet und war dabei bemüht, die sehr verschiedenen, parallel gewachsenen Strukturen, die er anhand von Tagungsthemen, Arbeitskreisen, Kongressen und Schriftstücken nachzeichnet, zusammenzuführen (14-29). Aus der Perspektive des langjährigen Vorsitzenden des Arbeitskreises Geistliche Gemeindeerneuerung in der EmK nimmt Pastor Reiner Dauner die Entwicklungen der charismatischen Bewegung in Westdeutschland in ihrer internationalen Vernetztheit in den Blick (30-37). Die Pastoren Thomas Röder (38-52) und Dieter Weigel (53-61) legen in einem je eigenen Beitrag die innerkirchlichen Auseinandersetzungen in der ehemaligen DDR dar und erläutern als in die Bewegung von unterschiedlichen Standorten her Involvierte die kritischen „Streitpunkte“ im Bereich der Jugendarbeit (49-52) und des Schriftverständnisses.
Im Themenblock II, Hymnologische Beiträge, fokussieren die beiden Autoren das Thema auf einen wesentlichen Schwerpunkt methodistischen Selbstverständnisses, nämlich auf das Liedgut, seine „Theologie in Liedern“. Während der anglikanische Theologe Dr. James Steven das Liedgut der frühen methodistischen und das der charismatischen Bewegung miteinander vergleicht und viele Übereinstimmungen im Anliegen, die Gegenwart Christi zu feiern, entdeckt (64-84), untersucht Pastor Joachim Georg den methodistischen Gottesdienst im Rahmen der liturgischen Entwicklungen am Ende des 20. Jahrhunderts (85-108). Neben einem interessanten historischen Überblick über Gottesdiensttraditionen der Vorläuferkirchen der heutigen EmK (Methodistenkirche und Evangelische Gemeinschaft) unter dem Einfluss von evangelisch-landeskirchlichen liturgischen Traditionen, gilt sein Augenmerk vor allem der Art und dem Inhalt der „erlebbaren Anbetung“ Gottes im Gottesdienst. Georg sensibilisierte für die kontextuelle, auch kulturellen Prägungen (91) wie auch die geistliche Haltung der Gottesdienstteilnehmer (95). Eine lebendige Gemeinde brauche dabei immer beides, „die Verbundenheit mit der Tiefe der Geschichte und die Vernetzung mit der Weite des heutigen Volkes Gottes“ (105). Georg plädiert für „gegenseitige Akzeptanz“ und die Wahrnehmung des Schatzes der „ganzen christlichen Tradition“ (100).
In Teil III, Theologische Beiträge, legt zunächst Dr. Roland Gebauer, Professor für Neues Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen, den biblisch-theologischen Befund im Blick auf Gotteserfahrungen vor, die durch den Heiligen Geist gewirkte Phänomene bewirken (können) und erörtert die verschiedenen Charismen im Neuen Testament (110-134). Der inzwischen verstorbene Dr. Vilém Schneeberger (Superintendent der EmK in Tschechien und Historiker) entfaltet die pneumatologische Akzentsetzung John Wesleys im Blick auf eine Theologie der Heilserfahrung, die Wesley im Rahmen der Lehre der Kirche von England und im Gespräch mit anderen theologischen Ausprägungen (calvinistisch, lutherisch in Gestalt der Herrnhuter Brüdergemeine) entwickelt hat (135-162). Wenngleich eine Fülle von „Phänomenen“ in den methodistischen Versammlungen auftrat, hat Wesley deren Einordnung als Werk des Heiligen Geist sorgfältig geprüft. Wesley habe eher die Frucht als die Gaben des Heiligen Geistes betont (156).
Schließlich fügt Dr. Christoph Raedel einen eigenen Beitrag zur Gotteserfahrung hinzu (163-192). Auch in diesem Kapitel werden noch einmal sorgfältig begriffliche Klärungen, frömmigkeitsgeschichtliche Einordnungen und methodistische Akzentsetzungen vorgenommen. Raedel zieht in großer Wertschätzung anderer Sichtweisen und Schlussfolgerungen ein Fazit, indem er ermuntert, gegenseitig das Inspirierende der Vielfalt der Erfahrungsweisen Gottes (Charismen) als einander ergänzend Wert zu schätzen und zu erleben, denn, „die Vielfalt der Wege göttlicher Kommunikation ist nach methodistischer Auffassung um der Einheit Gottes willen auch als Einheit anzunehmen“ (182).
Schließlich werden im Thementeil IV Praxisberichte gegeben. Der von Pastor Frank Drutkowski verfasste Beitrag über den langen Prozess des charismatischen Gemeindeaufbaus der EmK-Gemeinde in Berlin Lankwitz und über einen üblichen Gottesdienst vermittelt auch das Ringen der unterschiedlichen Gemeindegruppen und Gemeindeglieder um eine gemeinsame Vision der Gemeinde, in der geistliches Wachstum und soziales Engagement ihren Platz haben (194-227). Frank und Irmgard Ufer berichten als Sozialtherapeut bzw. Medizinerin vom langen Weg des Aufbaus einer sozialdiakonischen Arbeit im Kontext einer geistlichen Gemeindeerneuerung: der Suchtkrankenhilfe „come back“ in Zittau (218-227). Beide Beiträge bestechen durch ihre Offenheit bezüglich der schwierigen, bisweilen schmerzhaften Sondierungsprozesse und verdeutlichen das ernsthafte Ringen um „nötige Klärung geistlicher Prozesse in der Gemeinde“ (223).
Der Band wird mit einem Quellendokument abgeschlossen (230-245): Die 1996 von der Generalkonferenz der United Methodist Church (dem obersten internationalen kirchenleitenden Gremium der EmK) verabschiedeten Leitlinien: Die Evangelisch-methodistische Kirche und die charismatische Bewegung, die Pastorinnen/ Pastoren und Laien mit und ohne charismatische Erfahrung eine Handlungsanleitung geben wollen (231-237); sie bieten außerdem eine begriffliche Klärungen (231) und historische Einordnung der charismatischen Bewegung (238-245).
Der vorliegende Band vermittelt viele neue Einsichten und Denkanstöße. Alle Beiträge zeichnen sich durch das Bemühen um eine Balance zwischen unterschiedlichen theologischen Ansätzen und Frömmigkeitsstilen aus, die zur Fortführung des Gesprächs miteinander anregen wie auch zum gemeinsamen Erleben der Gegenwart Gottes in der Vielfalt spiritueller Erfahrungen einladen.
ISBN:978-3-7675-7090-0 260 Seiten Preis: 23,90€ Weitere Verlagsinformationen...